Bundesverfassung, Kantonsverfassung 1848

Zusatzinformationen zur Stele – aus “Ägerital – seine Geschichte”

Innert kurzer Zeit hatten die Sieger des Sonderbundskrieges (1947) eine neue Verfassung entworfen, welche die liberalen Forderungen nach einem starken, demokratischen und freiheitlichen Bundesstaat verwirklichte, zugleich aber mit föderalistischen Konzessionen verband. Das konservative Oberägeri lehnte wie der Gesamtkanton mit mehr als zwei Dritteln Nein ab, das eher liberale Unterägeri stimmte mit knapper Mehrheit zu. Die neue, ebenfalls liberal geprägte Kantonsverfassung hatte dagegen in beiden Gemeinden einhellige Zustimmung gefunden. Allerdings war die Verfassungsannahme eine indirekte Vorbedingung für den eidgenössischen Truppenabzug gewesen, was den Entscheid erleichtert haben mag. Die neue Kantonsverfassung von 1848 verstärkte das Prinzip der repräsentativen Demokratie, in der das Volk zwar wählen, aber nicht über Sachfragen entscheiden darf. Die Volksvertretung bestand in einem Grossen Rat, der die elf Regierungsräte wählte. Die Landsgemeinde wurde ohne grosse Widerstände abgeschafft. Die Verfassung festigte nicht nur die Position von Regierung und Parlament gegenüber den Bürgern, sondern auch jene des Kantons gegenüber den Gemeinden.

Die Gemeinden in ihrer traditionellen Form als weitgehend selbstständige Körperschaften verloren an Bedeutung und wurden im Spannungsverhältnis zwischen Autonomie und Integration vermehrt in den grösseren Zusammenhang von Kanton und Bund eingegliedert.

1848 veränderten zwei Entscheidungen die Verhältnisse grundsätzlich: Die neue Kantonsverfassung verlangte die Ausscheidung der Korporationen von der bisherigen Einheitsgemeinde, und die Bundesverfassung deklarierte ein schweizerisches Bürgerrecht und garantierte die Niederlassungsfreiheit.

Damit begann die innert weniger Jahrzehnte abgeschlossene Ausscheidung verschiedener Gemeindearten. Die Gemeinden mussten nun bei gewissen Voraussetzungen die Niederlassung bewilligen. Die Bildung von besonderen Korporationen öffnete das Bürgerrecht, da sich die Frage der Allmendnutzung nicht mehr stellte.

Zwei politische Gemeinden im Ägerital

Das althergebrachte Zugrecht wurde im 19. Jahrhundert aktuell, da es nun zwei politische Gemeinden gab und die Allmendgenossenschaften Schritt für Schritt Landteile zur individuellen Nutzung ausschieden. Das Zugrecht verflocht die beidseitigen Allmendteilungsprojekte miteinander, belastete das ohnehin schwierige Verhältnis beider Gemeinden mit noch mehr Streitpotenzial und löste eine erhebliche Wanderung von der oberen in die untere Gemeinde aus. Die besser ausgestattete Sondernutzung der Allmend und die günstiger gelegenen Landteile in Unterägeri veranlassten nämlich seit dem frühen 19. Jahrhundert ärmere Oberägerer Familien, ihr Zugrecht auszunützen und in die untere Gemeinde zu ziehen. 1844 zählte der dortige Pfarrer 197 Männer, die auf diese Weise mit ihren Familien nach Unterägeri gekommen waren. Da die Zuzüger eher ärmeren Schichten angehörten, waren sie unerwünscht, und der Gemeinderat überlegte sich schon bald Mittel, «disen Einhalt zu thun, wenigstens nur der schlechten Mentschen Klasse». Noch mehr kam das Zugrecht unter Druck, als die Oberägerer 1843 beschlossen, ihre Allmend als Privateigentum zu verteilen. Die Unterägerer Zugberechtigten sahen ihre alten Rechte bedroht und klagten mit Erfolg gegen die Aufteilung. Das Zugrecht gab noch bei weiteren Allmendprojekten zu reden, letztmals in den 1880er Jahren, als die Unterägerer ihr Allmendland zu Besitz verteilten.

Als es die Korporation Oberägeri anfangs der 1970er Jahre einseitig aufhob, da es mit dem neuen Bürgerrechtsgesetz gegenstandslos geworden sei, wehrte sich die Korporation Unterägeri erfolgreich dagegen.

Neubürger, Heimatlose

Bezeichnenderweise stammten aber die ersten Ägerer Neubürgerinnen und -bürger aus einer Kategorie, die durch die bisher allgemein restriktive Praxis erst geschaffen worden war. 1853 mussten die Gemeinden heimatlose Angehörige aus den Geschlechtern der Trutmann, Berglas, Gaillard, Jäggi und Weingärtner einbürgern. Die Heimatlosen, die einst durch Vertreibung, Mischehe, Religionswechsel, versäumte Erneuerung oder als Strafe ihr Bürgerrecht verloren hatten, waren bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts ein grosses soziales Problem. Sie waren rechtlos und von der Armenfürsorge ausgeschlossen.

Viele zogen im Lande herum und schlugen sich mit Korbflechten und Kesselflicken, Betteln und Stehlen durch die Nöte des Lebens. Nach vergeblichen Bemühungen, das Problem mit Vertreibung und Verfolgung gewaltsam zu beseitigen, löste es der Bundesstaat mit der zwangsweisen Einbürgerung zumindest im rechtlichen Sinne. Die Beziehungen zwischen den Gemeinden und ihren unerwünschten Neubürgern blieben aber schwierig, und Unterägeri ergriff die erste Gelegenheit, einen Teil von ihnen nach Amerika abzuschieben.

Erwünschter waren jene Neubürger, die bloss ein schweizerisches Bürgerrecht ohne Niederlassung wollten. In den 1860er und 1870er Jahren bürgerte vor allem Unterägeri viele Personen ein. Die Gemeinde brauchte Geld für Schule und Armenwesen, und die Ausländer, die meisten aus Süddeutschland, zahlten grosse Einkaufssummen. Es entstand ein eigentlicher Wettbewerb zwischen den Gemeinden um die wohlhabenden Neubürger, ehe der Bund 1876 diese Praxis unterband. Fortan nahmen die seit 1874 dafür zuständigen Bürgergemeinden aus Angst vor armen und daher unterstützungsberechtigten Neubürgern kaum noch jemanden ins Bürgerrecht auf. Besonders die Oberägerer zeigten sich bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts sehr zurückhaltend.

Emanzipation der Niedergelassenen

Bis Ende des 18. Jahrhunderts war der Fall klar: In der Gemeinde hatten nur die im Tal wohnenden und mit dem Talrecht ausgestatteten, ehr- und wehrfähigen Männer ab 16 Jahren mitzubestimmen.

Die Helvetik änderte zweierlei: Sie setzte das Stimmalter auf 20 Jahre hinauf und gewährte allen helvetischen Bürgern die Mitsprache. Ab 1803 waren die Männer ohne Talrecht wieder von der Beteiligung ausgeschlossen. Als Altersgrenze galten fortan 19 Jahre. Daran änderte auch die kantonale Verfassung von 1848 nichts. Niedergelassenen Schweizern musste zwar das kantonale Stimmrecht gewährt werden. Das gemeindliche Stimmrecht hatten sie nicht, wohl aber die Steuerpflicht. Ausserdem konnten sie von den Gemeindebehörden in gewissen Fällen, zum Beispiel bei Unsittlichkeit oder Armut, weggewiesen werden. Die stimmberechtigten Gemeindebürger, die 1850 knapp einen Viertel der Einwohnerschaft ausmachten, waren also immer noch die Herren in der Gemeinde, deren Einwohnerschaft rechtlich fein gestuft war: Die meisten Rechte hatten die zugberechtigten Korporationsgenossen. Dann folgten die andern Genossen und die wenigen Gemeindebürger ohne Korporationsrecht. Weniger Rechte hatten die Bürger anderer Gemeinden im Kanton, die aber in ihrer Heimatgemeinde stimmberechtigt waren. Nur in kantonalen und eidgenössischen Angelegenheiten mitzubestimmen hatten die niedergelassenen Schweizer, in gar keinen die Ausländer und die Frauen. Die Bundesverfassung von 1874 verlangte die Gleichberechtigung der Niedergelassenen in der Einwohnergemeinde. Schon bei den ersten Einwohnergemeindewahlen gelangte in Unterägeri ein Niedergelassener, der Metzgermeister Rudolf Brunner, in den Einwohnerrat.